Absaloms Heimsuchung - Aufruhr der Elemente

 

 

 

1. Kapitel

 

 

Zwischen andere Aussteigende eingekeilt wurden Adriana und Sophie förmlich aus dem U-Bahn-Waggon geschwemmt. Die Schwestern bewegten sich über den Bahnsteig in Richtung der Rolltreppen. Adrianas braune Augen suchten den Blickkontakt zu Sophie. Sie stand eine Stufe über Sophie und war somit gezwungen, auf sie herabzusehen.

Diese für Sophie günstige Rollenverteilung ermöglichte es ihr, durch einen kurzen, unauffälligen Scan, die gesamte Erscheinung der acht Jahre älteren Schwester in Augenschein zu nehmen. Wie nicht anders zu erwarten, kleidete sich Adriana auch an diesem Tag in der gewohnt unauffälligen Weise. Enge Jeans, ein braunes Leinenhemd, braune Lederschnürschuhe. Das schulterlange, dunkelbraune Haar umschmeichelte glatt herabfallend das asketisch anmutende Gesicht.

Es war Sophie ein Rätsel, wie ein Mensch sich derart hartnäckig auf Farben beschränken konnte, die man im freundlichsten Fall als „naturverbunden“ umschreiben konnte. Sie selbst schwelgte zeitweise in geradezu übertriebener Form in farbenfrohen Tönen. Mutter Natur hatte ihr in dieser Hinsicht gleich einen kräftigen Farbklecks mit in die Wiege gelegt. Ihr in Naturwellen, bis auf die Taille herabwallendes, mahagonirotes Haar.

An diesem Spätsommertag unterstrich sie diesen beneidenswerten Vorzug durch ein smaragdgrünes Hemd. Es kontrastierte harmonisch mit dem vollen Haar, das sie durch einen dicken Haargummi zu bändigen versuchte. Die enge Jeans umschmeichelte ihre weiblichen Formen und erweckte gleichzeitig in Sophie das Gefühl, im Gegensatz zu ihrer extrem schlanken Schwester, ein paar Pfunde zu viel mit sich herumzutragen.

„Und, wie geht es dir?“ Aus Adrianas Stimme war echtes Interesse herauszuhören.

Natürlich war Sophie sofort klar, in welche Richtung dieser Teil der Unterhaltung abzudriften drohte. Ein Bereich, der für sie derzeit wirklich unangenehm war. Die Antworten standen bereits fest. Nein, kein Mann in Sicht. Nein, ich warte nicht auf ein Wunder, aber ich habe auch keine Lust ständig um die Häuser zu ziehen, um einen Mann an Land zu ziehen. Und die Typen, die man bei solchen Gelegenheiten trifft, sind sowieso nicht das, wonach ich suche. Diverse weitere Ausreden für einen einfachen, dafür zutreffenden Satz, hatte sie bereits geistig abgespult, ehe sie sich dafür entschied, einfach die Wahrheit zu sagen. „Im Augenblick habe ich die Schnauze von Männern gestrichen voll.“

„Na hör mal, erzähl mir nicht, dass du von nun an alleine durchs Leben gehen willst“, entgegnete ihre Schwester mit Nachdruck.

Sophie schüttelte ihren Kopf in aufrichtiger Entrüstung. „Natürlich habe ich das nicht vor, aber ich werde auch nicht zwanghaft hinter jedem Hosenbein herdackeln, nur um irgendeinen Nichtsnutz abzubekommen, der mich dann doch nur wieder enttäuscht. Diesmal wird der Mann zu mir kommen und mich überzeugen müssen. Aus, Schluss, Ende dieses Themas!“

Ein herzhafter Lacher entrang sich Adrianas Kehle. „Ha! Na klar, typisch. Du denkst doch nicht allen Ernstes, dass der Traummann an der nächsten Ecke wartet, dich mit roten Rosen überschüttet und um deine Hand anhält? Ich bitte dich, das ist Romankitsch vom Feinsten. Vergiss es, um heute einen Mann abzubekommen, musst du darauf zugehen und dir greifen, was du haben willst. Jedenfalls, wenn du einen abbekommen möchtest, der es wert ist, dass du deine Zeit mit ihm verbringst.“

Ein müdes Lächeln glitt über Sophies Gesichtszüge. „Du musst es ja wissen. Der erste Mann, der an dir Interesse bekundet hat, war in deinem Fall offensichtlich auch der Richtige, denn er ist heute dein Ehemann. Und ich glaube mich recht zu erinnern, dass nicht du es warst, die die Initiative ergriffen hat. Gehe ich recht in dieser Annahme? Was berechtigt dich also dazu, mir zu sagen, wie man heutzutage vorgehen muss?“

Kleinlaut murmelte ihre Schwester: „Wenn ich in deiner Lage wäre, dann würde ich nicht tatenlos rumsitzen.“

„Wunderbar. In welcher Lage bin ich denn? Single, das bin ich und im Augenblick in dieser Situation wesentlich glücklicher, als in meinen Beziehungen zuvor. Also vergiss es einfach. Ich gehe auf meine Weise an die Sache heran“, wehrte Sophie tapfer jeglichen Angriff auf ihr Privatleben ab.

Was nicht heißen sollte, dass ihre Schwester so schnell klein beigab. „Deine Weise, dass ich nicht lache! Du verkriechst dich, wie ein weidwundes Tier in deiner Wohnung und versuchst nicht einmal unter Leute zu kommen. Und glaub mir, außer dem Briefträger wird kaum einer an deiner Tür läuten. Die Aussichten einen Mann auf diese Weise kennenzulernen, sind also eher gering.“

Sophie spürte Hitze in sich aufwallen und unterdrückte die aufsteigende Wut nur mit Mühe. Sie musste schwer schlucken, ehe sie einen weiteren Satz der Erwiderung zwischen ihren Zähnen hervorwürgte. „Warum kannst du nicht ebenso wie ich akzeptieren, dass ich eben nun einmal Single bin und wohl auch für geraume Zeit bleiben werde?“

„Weil niemand gerne freiwillig einsam ist.“

Die Wut zog sich wie Wasser bei Ebbe in Sophies tiefste Tiefen zurück. Es blieb ein übler Nachgeschmack. „Ich bin nicht einsam, nur eben zurzeit alleine. Das ist ein Unterschied.“ Es war kein Unterschied, das wusste sie nur zu gut, oder warum saß sie abends vor dem Fernseher und wünschte sich einen Partner, mit dem sie reden und kuscheln konnte?

Gegenüber der jüngeren Schwester gnädig gestimmt, unterdrückte Adriana einen weiteren beißenden Kommentar und wechselte zu einem unverfänglicheren Gesprächsthema über. „Kommst du nächste Woche wieder mit auf den Flohmarkt?“

Im Augenblick konnte sich Sophie beim besten Willen nicht vorstellen, Lust auf eine Ansammlung von Menschen zu haben. Erst letztes Wochenende ließ sie sich dazu überreden, mit ihrer Schwester und deren Ehemann Marco einen Flohmarkt zu besuchen. Anfänglich war sie lustlos hinter den beiden hergetrottet, doch nach den ersten erfolgreichen Schnäppchen, einem hübschen silbernen Ring in Form einer sich um ein Tigerauge windenden Schlange und einem dazu passenden silbernen Armband wandelte sich die Stimmung. Später war sie sogar noch in den Besitz eines besonders außergewöhnlichen Stückes gelangt, damit war der anstrengende Tag für sie gerettet gewesen.

Trotzdem verspürte sie einen tiefsitzenden Widerwillen, sich dieses Wochenende schon wieder auf eine derartige Unternehmung einzulassen. Wie bei allen vorangegangenen Flohmarktbesuchen würde es sich zu einem stundenlangen Wandern zwischen den Tischen ausweiten.

„Sei nicht böse, aber mir liegt das nicht. Ist ja ganz nett, einmal im Jahr auf diese Weise seine Zeit zu verbringen, aber öfter muss ich das nicht haben“, lehnte sie ohne Umschweife ab.

Schulter zuckend akzeptierte Adriana ihre Entscheidung.

Sophie zog es vor, einen gemütlichen Stadtbummel durch München zu unternehmen und neuwertige Ware zu bewundern. Die teilweise eher schrottreifen Angebote auf diversen Flohmärkten erzeugten einen gewissen Ekel in ihr. Dinge, die andere bereits besessen hatten, übten auf sie keinen Reiz aus. Von Schmuck einmal abgesehen.

Nebeneinander schlenderten sie durch den Eingang eines Auktionshauses und steuerten auf die Treppe zum 1.Stock zu. Sie liebten es, sich über die bevorstehenden Auktionen zu informieren, sich all die wunderschönen Kostbarkeiten in den Katalogen anzusehen, die sie sich niemals leisten würden können.

Ein unscheinbarer, kleiner Mann mit kurzem, schwarzem Haar und drahtigem Körper drängte sich vor ihnen auf die unterste Stufe. Er stieg ohne sie weiter zu beachten vor ihnen hinauf in die 1.Etage des zweistöckigen Auktionshauses.

Die Schwestern schenkten ihm keine weitere Beachtung. Unhöflicher Umgang mit Frauen war in diesem Zeitalter keine Seltenheit und sich jedes Mal über Männer aufzuregen die Türen nicht aufhielten oder einem den Vortritt nahmen, hätte nun wahrlich zu viel Zeit in Anspruch genommen.

„Knigge ist tot, es lebe die Emanzipation“, ging es Sophie durch den Kopf.

„Hast du schon etwas wegen des Amuletts unternommen?“, drang Adrianas Stimme in ihre allzu leicht abschweifenden Gedanken. Sie musste einen Moment überlegen, worauf Adriana anspielte, dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Das fremdländisch anmutende Schmuckstück, das sie auf dem Flohmarkt erstanden hatte.

„Oh ja, ich war bei einem Juwelier und habe es schätzen lassen. Ich muss es in den nächsten Tagen abholen. Anscheinend habe ich da einen Glücksgriff getan. Es ist aus Gold und der Stein ist ein Feueropal. Die Schriftzeichen, um die Blüte herum, sind arabisch, allerdings konnte der Juwelier sie verständlicherweise nicht übersetzen. Bei der Blüte handelt es sich um eine „Rose aus Jericho“, was auch immer das sein mag. Er erklärte mir, dass es eigentlich gar keine richtige Blüte ist, sondern eine Pflanze, die sich bei großer Trockenheit …Hey, Vorsicht Meister, passen Sie gefälligst auf, wo Sie hintreten“, wurde ihre Unterhaltung rüde durch Sophies wütenden Einspruch unterbrochen.

Der Mann vor ihnen wandte sich urplötzlich um und rempelte Sophie hart an. Sein glatt rasiertes Gesicht verzog sich zu einem entschuldigenden Lächeln, doch das Lächeln erreichte seine kalten, kleinen Augen nicht. „Verzeihung. Aber ich habe unbewusst Ihrem Gespräch gelauscht, und da ich ein Sammler von ausgefallenen Schmuckstücken bin, konnte ich mich dem Inhalt ihrer Unterhaltung nicht entziehen. Sie sprachen von einem Amulett mit arabischen Schriftzeichen, wie interessant, höchst interessant. Könnten Sie es mir näher beschreiben?“, schmeichelte er sich mit schmieriger Stimme ein.

Auf den ersten Blick verspürte Sophie eine tief sitzende Abneigung gegen den Fremden. Lag es an seiner durchwegs schwarzen Kleidung? Schwarze Lederslipper, schwarze Leinenhose, schwarzes Leinenhemd und ein schwarzes Jackett, alles wirkte nagelneu und bisher unbenutzt. Oder war es der seltsame Dialekt, der in ihren Ohren unangenehm klang und sie sich mit jeder Faser ihres Körpers aus seiner Reichweite wünschen ließ? Sie konnte sich die Intensität ihrer negativen Gefühle nicht erklären, wollte sie allerdings auch nicht verleugnen. „Ich wüsste nicht wozu?“

Mit diesen Worten griff sie nach der Hand ihrer Schwester und wollte sie an dem Fremden vorbei, die Treppe hinaufziehen. Nur weg von dieser eigentümlichen Person, ging es ihr durch den Kopf.

Mit einer blitzschnellen Bewegung schob er sich erneut in ihren Weg und verhinderte ihren halbherzigen Fluchtversuch. „Das Volk dieses Landes ist nicht besonders gastfreundlich. In meiner Heimat ist es nicht Sitte einem Fremden eine Bitte abzuschlagen“, hielt er ihr mit aalglatter, emotionsloser Stimme vor.

„Glauben Sie mir, in meinem Land ist das an der Tagesordnung. Und nun lassen Sie uns durch“, erwiderte Sophie schlagfertig. Sie versuchte ihrer Stimme eine gewisse Härte zu verleihen, um dem Mann klar zu machen, dass mit ihr nicht unbedingt zu spaßen war.

Reichlich unbeeindruckt drängte er sich näher an sie heran. Sein warmer, rauchgeschwängerter Atem streifte auf unangenehme Weise ihre Wange, sie spürte einen kalten Schauer über ihren Rücken jagen.

„Die „Rose von Jericho“ ist ein Zeichen der Wiedergeburt. Manches ruht für lange Zeit, aber es erwacht unweigerlich eines Tages zu neuem Leben. Sie sollten solchen Zeichen mit sehr viel Vorsicht begegnen“, hauchte der unheimliche Fremde nahe ihrem Ohr. In seine Augen trat ein gieriges Funkeln.

Die negativen Gefühle dem Mann gegenüber verstärkten sich.

Sein eiskalter Blick bohrte sich in Sophies Augen und ließ sie unwillkürlich mitten in der Bewegung erstarren. Dann wandte er sich unvermittelt ab und entschwand ohne ein weiteres Wort.

Irritiert und verärgert zugleich sahen sich die Schwestern an.

„Was war denn das?“, entschlüpfte es Adriana, mit vor Nervosität rauer Stimme.

Sophie konnte in den Augen ihrer Schwester den Gefühlsaufruhr ablesen, der zurzeit in ihrem Inneren wütete. Ihr erging es nicht anders. Sie konnte sich das eigentümliche, ja geradezu bedrohliche Verhalten des Mannes nicht erklären, wollte aber auch nicht länger darüber nachdenken. Mit aller Macht versuchte sie den Vorfall als unwichtig abzutun, und in eine wenig frequentierte Ecke ihres Gehirns abzuschieben. Nur nicht daran denken.

„Vergiss es, ein Spinner mehr auf dieser Welt. Lass uns nach oben gehen“, versuchte sie Adriana von dem seltsamen Typen abzulenken. Wäre es nach ihr gegangen, sie hätte den Weg nach unten eingeschlagen, um auf gar keinen Fall noch einmal in den zweifelhaften Genuss einer Begegnung mit diesem Widerling zu kommen. Aber ihr Stolz ließ es nicht zu, die Flucht zu ergreifen.

Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, stiegen sie die Treppe hinauf. Sie gaben sich Mühe den Vorfall zu übergehen. Doch es blieb ein übler Nachgeschmack. Die Stimmung war dahin und es wollte kein rechtes Gespräch mehr aufkommen. Es war, als hätte der Auftritt des Mannes jegliche Freude aus ihrem Leben vertrieben. Auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollten, keine von beiden schaffte es, den Ausländer aus ihren Gedanken zu vertreiben. Er geisterte wie eine Furcht einflößende Schattengestalt durch ihre Erinnerung.

Mit der Zeit verspürte Sophie Wut in sich aufsteigen. Wut über das Verhalten des Mannes, Wut über ihre Hilflosigkeit und Wut darüber, dass ihre Freude über das kostbare Amulett nun getrübt war.

Erst auf dem Heimweg, kam Adriana wieder auf den unverschämten Auftritt des Ausländers zu sprechen. Kaum, dass sie sich einen Platz in der U-Bahn gesichert hatten, eröffnete sie das Gespräch mit den Worten: „Da habe ich heute Abend Marco doch wenigstens etwas zu erzählen. Wenn er mir die ganze Geschichte überhaupt abnimmt.“

„Du hast eine Zeugin, der jetzt noch die Haare zu Berge stehen. Vergleichbares ist mir noch nicht passiert. Welcher Nationalität glaubst du gehörte er an?“ Sophies Gedanken kreisten schon eine ganze Weile um diese Frage. Sie hatte Probleme damit, seinen Akzent einzuordnen. Grammatikalisch war sein Deutsch einwandfrei gewesen, doch der Akzent war unleugbar vorhanden.

Gedankenverloren legte Adriana die Stirn in Falten. „Äußerlich und auch von der Aussprache her, würde ich auf einen Araber tippen. Aber sicher bin ich mir auch nicht. Ganz egal, wo er herkommt, dorthin soll er auch schleunigst wieder verschwinden.“

Abwesend nickte Sophie mit dem Kopf. „Warum er wohl so versessen darauf war, etwas über das Amulett zu erfahren? Das war kein normales Interesse an einem Schmuckstück.“

Wie ein zeitverschobenes Spiegelbild ihrer Schwester bewegte nun Adriana zustimmend ihren Kopf auf und ab. Dann schüttelte sie sich kurz und grinste Sophie unsicher an. „Jedenfalls sind wir ihn los. Was machen wir uns überhaupt noch Gedanken über ihn? Er ist weg und wir leben ganz normal weiter. Wann holst du das Amulett vom Juwelier ab? Ich bin richtig neugierig geworden und möchte es mir genauer ansehen.“

Abwehrend erhob Sophie die Hände. „Ehrlich gesagt, ich bin nicht besonders scharf darauf, den Unglücksbringer allzu schnell wieder in Besitz zu nehmen. Vielleicht wäre es das Beste, ich würde ihn einfach verkaufen.“

„Warum hast du es überhaupt beim Juwelier gelassen?“

Erstaunt zog Sophie eine Augenbraue in die Höhe. „Habe ich das noch gar nicht erwähnt? Mit dem Verschluss stimmt etwas nicht. Man kann das gute Stück nicht vollständig schließen. Ich habe es gleich zur Reparatur dort gelassen.“

Wie immer auf den Schwachpunkten ihrer jüngeren Schwester herumreitend, meinte Adriana augenzwinkernd: „Natürlich hast du dir das Schmuckstück vor dem Kauf wieder nicht genau angesehen. Das ist wirklich typisch für dich.“

Zugegebenermaßen, so etwas konnte Adriana nicht passieren, sie untersuchte jedes Objekt ihrer Begierde lieber zehn Mal, bevor sie ein schadhaftes Stück erwarb. Trotzdem nervte es Sophie, jedes Mal auf das gleiche Fehlverhalten angesprochen zu werden. Allerdings gab sie es längst auf, auf eine Änderung im Verhalten ihrer Schwester zu hoffen. Daher überging sie die letzte Bemerkung klugerweise und verwies nur mit einer kurzen Handbewegung darauf, dass sie ihre Haltestelle erreicht hatten.

Hastig rafften sie ihre Taschen und Tüten zusammen und verließen die U-Bahn.

„Wenn du mich zuerst meine Sachen in meiner Wohnung abstellen lässt, dann begleite ich dich noch nach Hause. Mir ist im Augenblick nach einem Spaziergang zumute. Ich bekomme diesen seltsamen Kauz nicht aus meinem Kopf.“ Sophie fand die Vorstellung alleine daheim in ihrer Wohnung sein zu müssen im Moment unerträglich. Die Aussicht auf die Gegenwart ihrer Schwester bewegten sie sogar dazu, freiwillig einen weiteren Fußmarsch auf sich zu nehmen.

„Ehrlich gesagt, ich bin nicht gerade böse, wenn ich nicht alleine heimgehen muss. Der Auftritt dieses Typen lässt mich nicht mehr los. War schon unheimlich, wie er sich benommen hat. So ein Verhalten hat doch nichts mit Interesse an Schmuck zu tun, der hätte einem Horrorkabinett entsprungen sein können“, scherzte Adriana wenig erheitert. Im Grunde meinte sie jedes Wort, wie sie es sagte und das ohne jeglichen humorvollen Unterton.

Zurückhaltend schwatzend gingen sie das kurze Stück zu Sophies Wohnung, stellten deren Einkäufe im Flur ab und verließen den zweistöckigen Wohnblock wieder.

Ihr Weg führte sie an einer Kirche vorbei zu einer weitläufigen Anlage. Ein grasbewachsener Hügel erstreckte sich mehrere Hundert Meter über das Gelände. Beiderseits wurde die Grünanlage von zweistöckigen Häusern flankiert. Oberhalb des Hügels grenzten Einfamilienhäuser, mit den dazugehörigen Gärten das Gebiet ab. Unterhalb der Absenkung verlief eine einspurige, wenig benutzte Straße, darauf folgten kleinere Mehrfamilienhäuser. Eine gutbürgerliche Gegend, die bisher von Vandalen und der nervigen Großstadtmentalität verschont geblieben war.

Seit ihrer Geburt lebten Adriana und Sophie in diesem Stadtteil und hatten sorgfältig darauf geachtet, auch nach dem Auszug aus dem elterlichen Haus nicht allzu weit davon entfernt, eine eigene Wohnung zu finden. Natürlich durchlebte auch dieser Stadtteil im Lauf der Jahrzehnte eine Wandlung, allerdings in weitaus geringerem Maße, als die meisten anderen Gebiete Münchens. Der Bau der U-Bahn wies im Nachhinein nur Vorzüge auf. Die bessere Anbindung an das Stadtzentrum, die Errichtung neuer Fahrradwege und baumbesetzter Grünstreifen, entlang der Hauptstraße. Die Grünanlage war jedoch gänzlich von Veränderungen verschont geblieben.

Wie gewohnt wählten die Schwestern den Weg durch den Park, obwohl es eine zweite, kürzere Strecke, durch die kleinen Seitenstraßen gab. Aber sie zogen die Aussicht auf Gras und Bäume vor und schlenderten plaudernd unterhalb des Hanges über die Wiese. Angeregt schwatzend vergaßen sie sogar den unheimlichen Fremden und achteten nicht weiter auf ihre Umgebung.

In ihrem Unterbewusstsein nahm Sophie ein herannahendes Auto wahr, aber sie ignorierte das Alltagsgeräusch. Der Wagen näherte sich ihnen von hinten, kam langsam näher und bremste schließlich seitlich von ihnen ab. Es trennten sie etwa sieben Meter Grünstreifen, bewachsen mit Eichen und Buchen von dem Fahrzeug. Doch weder Adriana noch Sophie schenkten dem Gefährt ihre Aufmerksamkeit. Zwei Türen wurden aufgerissen, Schritte näherten sich ihnen.

Erst jetzt wandte Sophie den Kopf in Richtung der sich auf sie zugbewegenden Personen. Augenblicklich erkannte sie den Mann aus dem Auktionshaus wieder. Ein bösartiges Grinsen auf dem Gesicht stürzte er in Begleitung eines zweiten, größeren Mannes auf sie zu. Einen Augenblick stand Sophie wie gelähmt da und starrte den Männern entgegen, dann kam Leben in sie, und noch während sie die ersten Schritte machte, schrie sie ihrer Schwester zu: „Lauf!“

Ein Blick in Richtung der Männer genügte und Adriana setzte sich in Bewegung. Die Tüten krampfhaft umklammernd, rannte sie hinter Sophie her. Erst als sie sich bewusst wurde, dass die sperrigen Tüten sie an einem schnelleren Tempo hinderten, warf sie die Hemmnisse weit von sich.

Der Umstand, dass die Männer in gebückter Haltung unter den weit ausladenden Ästen der Bäume hindurchlaufen mussten, schenkte ihnen zusätzliche Sekunden. Anfangs vergrößerten sie den Abstand zu den Verfolgern, doch schon bald holten diese auf. Die mangelnde sportliche Betätigung, der in dieser Beziehung gleichsam faulen Schwestern, ließ sie rasch ins Hintertreffen geraten.

Von Sekunde zu Sekunde verkleinerte sich der Abstand zwischen ihren Verfolgern und ihnen, und schneller als erwartet holten die Männer Adriana ein. Der größere Angreifer warf sich von hinten auf sie und begrub sie unter sich.

Sophie konnte den Aufprall und die aus der Lunge entweichende Luft hören und wusste, was die Stunde geschlagen hatte. Sie beabsichtigte nicht, ihre Schwester zu opfern, um selbst zu entkommen. Allzu einfach wollte sie es den Verbrechern allerdings auch nicht machen. Noch im Laufen kramte sie ihren Schlüsselbund und das Handy aus der Hosentasche und verteilte die Schlüssel für Haus-, Keller-, Büro- und Registraturtür zwischen den Fingern ihrer rechten Hand. Das Handy behielt sie in der linken Hand und versuchte die 110 zu wählen.

„Lass das blöde Weib laufen. Die Andere müssen wir erwischen“, ertönte es in Sophies Rücken. Sie erkannte die beißende Stimme sofort wieder.

Kurz entschlossen drehte sie sich auf dem Absatz um und stellte sich ihren Verfolgern. Flüchten war sinnlos, sie hätten sie sowieso eingeholt. Jetzt hieß es geschickt ihre Vorteile zu nutzen, soweit sie überhaupt welche aufzuweisen hatte. Sie erfasste mit einem schnellen Blick die Lage. Der Größere ließ von ihrer Schwester ab und folgte nun dem Mann aus dem Auktionshaus. Dieser war nur noch wenige Schritte von ihr entfernt und setzte bereits zum Sprung an. Adriana rappelte sich bereits wieder auf und rannte schnurstracks auf ihre Schwester und die feindlichen Männer zu.

„Fang!“, schrie Sophie, warf mit einer schwungvollen Bewegung das Handy in Richtung ihrer Schwester und fügte mit überschnappender Stimme hinzu: „Ruf die Polizei!“

Sie konnte noch sehen, wie Adriana das Handy geschickt aus der Luft fing und auf dem Absatz kehrt machte und die Flucht ergriff.

Der unheimliche Fremde aus dem Auktionshaus hechtete durch die Luft auf sie zu, es blieb ihr gerade noch genug Zeit die Hand mit den Schlüsseln hochzureißen und ihm die provisorische Waffe gezielt durch das Gesicht zu ziehen. Ein Schmerzensschrei entrang sich seiner Kehle, dann traf sein Körper auf den ihren und wuchtete sie zur Seite.

Hart schlug Sophie auf dem grasbedeckten Boden auf, rollte sich auf den Bauch und krabbelte so schnell es ihr möglich war aus der Gefahrenzone. Sie kam erstaunlich schnell wieder auf die Beine, warf noch im Laufen einen Blick nach hinten und erkannte, dass der kleinere der Männer bereits erneut die Verfolgung aufnahm.

„Sie darf die Polizei nicht verständigen!“, rief er seinem kräftiger gebauten Begleiter über die Schulter zu. Zeitgleich versank sein Fuß in einem Loch und er stürzte mit einem schmerzverzerrten Laut vornüber.

Sein Partner hielt für einen Augenblick verwirrt im Lauf inne, dann änderte er die Richtung erneut und nahm wieder die Verfolgung von Adriana auf, die sich so schnell sie konnte in Richtung der Hauptstraße absetzte, das Handy dabei fest an ihr Ohr gepresst.

Jetzt konnte Sophie nur noch an sich selbst denken. Sie musste so schnell wie möglich Hilfe holen, durfte aber keinesfalls ihre eh schon überstrapazierte Lunge durch unnötige Schreie weiter schwächen. Also hastete sie stumm über die Wiese, versuchte sich darauf zu konzentrieren regelmäßig zu atmen, um zu vermeiden, dass Seitenstechen ihren Fluchtversuch vereitelte. Den Blick richtete sie fest nach vorne. In etwa vierhundert Meter Entfernung lag eine vierspurige Hauptstraße, wenn sie es bis dorthin schaffte, war sie gerettet.

Insgeheim schwor sie sich, demnächst regelmäßig joggen zu gehen.

Der Abstand zur rettenden Verkehrsanbindung schien sich einfach nicht zu verringern und hinter sich konnte sie bereits die Schritte ihres Verfolgers wahrnehmen. Der Sturz behinderte ihn offensichtlich nicht allzu lange und er verfügte eindeutig über die bessere Kondition.

Sie vergaß vor Aufregung gleichmäßig zu atmen und augenblicklich setzte der Schmerz in ihrer Taille ein. Stechend bohrte er sich in ihre Seite und verhinderte weitere tiefe Atemzüge. Ihre Beine wurden von Schritt zu Schritt schwerer und vermittelten den Eindruck, als würden sich während des Laufens Wurzeln ins Erdreich schlagen und sie an den Boden fesseln. Ihre Finger verkrallten sich erneut um den Schlüsselbund. Sie machte sich bereit für einen weiteren Angriff, sollte sie der Feind erreichen.

Der Augenblick kam schneller als befürchtet. Fernab jeglicher rettenden, belebten Straße, stieß der Mann seinen Arm von hinten in ihren Rücken und brachte sie zu Fall. Unnachgiebig umklammerte ihre rechte Hand den Schlüsselbund. Sie wollte sich auf den Rücken rollen, um sich gegen ihren Gegner zur Wehr setzen zu können, doch ehe sie dazu kam, rissen sie erstaunlich starke Arme in Höhe ihrer Taille nach oben. Ähnlich einem Beutetier unter den Arm geklemmt, wurde sie weggeschleift. Ihre Aussicht beschränkte sich auf das Gesäß des kleinen, drahtigen Ausländers und den schwarzen Stoff seiner nunmehr nicht mehr allzu unbenutzt anmutenden Kleidung. Gras hing an dem Leinenstoff, Erdflecken breiteten sich auf seiner makellosen Erscheinung aus.

Mit erstaunlicher Leichtigkeit schleppte er Sophie über die Wiese in Richtung des Autos. Sie hatte freien Blick auf die noch etwa vierhundert Meter entfernte, Rettung verheißende, vierspurige Straße. Deren Anblick verlieh ihr zusätzlich Auftrieb. Sie schloss die Finger fest um die Schlüssel, holte mit dem Arm weit aus und bohrte die neuen Zwecken zugeführte Waffe tief in das Fleisch des Oberschenkels ihres Feindes.

Laut aufschreiend lockerte er den Griff und sie entglitt seinem Arm, schlug auf Händen und Knien auf. Sie krabbelte gleich einem Kleinkind einige Meter auf allen vieren auf die Straße zu, steckte all ihre verbleibende Kraft in den Versuch auf die Beine zu kommen und einen weiteren Spurt hinzulegen. Doch ihre Knie wollten das Gewicht ihres Körpers nicht stützen und knickten wiederholt unter ihr ein. Krampfhaft konzentrierte sie sich darauf, all ihre Kraft zu bündeln und endlich auf die Füße zu kommen. Ihre einzige Waffe, der Schlüsselbund steckte nach wie vor im Schenkel ihres Gegners.

Die Schreie und fremdsprachigen Flüche ihres Verfolgers gelten in ihren Ohren, vermittelten ihr jedoch auch das Gefühl, das er hinter ihr zurückfiel. Einen Augenblick tauchte die irrige Halluzination vor ihrem geistigen Auge auf, dass sie ihm auf allen vier Extremitäten krabbelnd entkommen konnte. Doch diese Fata Morgana verschwand mit der lauter werdenden Stimme in ihrem Rücken. Er kam näher, unaufhaltsam näher und ihre verfluchten Knie wollten immer noch nicht funktionieren.

Sie warf sich gerade in dem Moment auf den Rücken, als sich der ausländische, unheimliche Übeltäter über sie beugte und nach ihr greifen wollte. In diesem Augenblick taten ihre Beine endlich, was sie ihnen seit geraumer Zeit befohlen hatte, sie streckten sich mit aller Kraft durch und traten mitten ins Gemächt ihres Feindes.

Dieser knickte mit einem erstaunlich leisen „Uff“ in der Mitte zusammen, was ihre Lage nicht unbedingt verbesserte, da er auf ihr zum Knien kam und sie somit ihrer neu gewonnenen Beinfreiheit beraubte.

Sophie blickte mitten in die weit aufgerissenen, überquellenden Augen, konnte den Schmerz darin lesen, was ihr eine gewisse Genugtuung vermittelte. Blut lief über das von ihrem Schlüsselbund geschundene Gesicht. Doch das positive Gefühl hielt nicht lange an. Der Mann erholte sich erstaunlich schnell und anstelle des Schmerzes erfüllte nun Hass seinen rasenden Blick. Er holte mit dem Arm aus. Sophie schloss, ergeben auf den kommenden Schmerz wartend, die Augen.

Statt Pein und Qual spürte Sophie jedoch Erleichterung durch die Entfernung seines Gewichts von ihrem geschundenen Körper. Vorsichtig öffnete sie die Augen und musste zu ihrer Verwunderung feststellen, dass sich wiederum zwei Männer in ihrer unmittelbaren Nähe aufhielten.

Ihr bisheriger Todfeind kniete vor einem weitaus größeren, schlanken Mann, der ihm nicht unähnlich, ebenfalls von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet war. Sein langes, schwarzes Haar verdeckte derzeit sein Gesicht, doch seine dunkle, bedrohliche Stimme drang ungehindert zu Sophies Ohren durch. Seine Worte blieben jedoch ein ungelöstes Rätsel für sie, er sprach in einer für sie unverständlichen, fremden Sprache.

Seine rechte Hand umklammerte das Handgelenk ihres Gegners gnadenlos, er spie ihm noch einige weitere Worte in der fremden Sprache entgegen, dann stieß er den Mann von sich und versetzte ihm im Fallen einen Tritt in den Bauch.

Schmerzerfüllt krümmte sich der kleine Angreifer, rappelte sich dann so schnell er konnte auf und ergriff die Flucht.

Sophies Blick folgte fasziniert, dem durch die Verletzung beeinträchtigten Mann auf seinem hinkenden Rückzug. Erst als sie sich sicher war, dass er diesmal nicht mehr umkehren würde, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf ihren Retter.

Dieser streckte ihr seine Hand seit geraumer Zeit helfend entgegen und schenkte ihr ein angedeutetes Lächeln.

„Alles in Ordnung?“, fragte er mit dem gleichen Akzent, den auch ihr Angreifer aufwies. Allerdings redete dieser Mann mit warmer, geschmeidiger Stimme und bot einen wesentlich angenehmeren Anblick.

Erst jetzt war Sophie in der Lage, ihn genau zu mustern. Er trug schwarze, enge Lederhosen, die über schwarzen Cowboystiefeln in Höhe der Fußgelenke ausliefen. Ein weites, schwarzes Baumwollhemd und ein schwarzes Halstuch, das er mit einem Knoten auf seiner Brust, um den Hals geschlungen hatte.

Unsicher nickte sie und ergriff vorsichtig die dargebotene Hand. Mit einem sanften Ruck zog er sie auf die Beine, die sofort unter ihr nachzugeben drohten. Kraftlos lehnte Sophie sich für einen Augenblick, gestützt durch seine Arme, gegen die breite Brust ihres Retters. Sie war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig, sie nahm den angenehmen männlichen Geruch wahr, der von ihm ausging, aber es zählte nur eines, sie war in Sicherheit.

Weit entfernte hysterische Schreie wurden laut. Sophie erkannte die überschnappende Stimme, die um Hilfe rief, sofort. Adriana!

Mit letzter Kraft stieß sie den Mann, der sie um fast einen Kopf überragte, von sich und torkelte auf unsicheren Beinen in Richtung der Schreie. Ein kraftloses „Adriana!“ entrang sich ihrer trockenen Kehle, dann ging sie in die Knie und beobachtete hilflos das Geschehen in etwa dreihundert Meter Entfernung.

Der größere der beiden angreifenden Männer hatte sich ihre zappelnde Schwester über die Schulter geworfen und trug sie zügigen Schrittes zu dem wartenden Wagen, in den gerade der kleine Unhold aus dem Auktionshaus einstieg und sich hinter das Steuer klemmte. Mit einem Griff öffnete sein Kumpan den Kofferraum und warf Adriana hinein. Das dumpfe Zuschlagen des Kofferraumdeckels war das Letzte, was Sophie bewusst wahrnahm, dann vergrub sie ihr Gesicht in den Händen. Tränen rannen zwischen ihren Fingern hindurch. Sie hatten Adriana in ihrer Gewalt!

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter und drückte sie beruhigend. „Sie werden ihr nichts tun, sie waren hinter Ihnen her. Die andere Frau ist in Sicherheit, solange sie nicht bekommen, was sie eigentlich wollen. Sie!“

Die ausdrucksstarke Stimme drang wie durch einen Nebel zu Sophies Gehirn vor und es offenbarte sich ihr der Wahrheitsgehalt dieser Worte. Adriana war nur ein Mittel zum Zweck, sie war das eigentlich gewünschte Opfer.

Langsam hob sie den Kopf, wischte mit einer energischen Geste die Tränen aus ihrem Gesicht und sah den entschwindenden Wagen hinterher.

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